Digitalisierung: Die Hausaufgaben der Volksschule bezüglich «Medien und Informatik»
«Werom hesch dini Huusufgabe ned gmacht?» - diesen Satz hat mancher von uns mindestens einmal in seiner oder ihrer Schulzeit gehört. Durch kleinere oder grössere Versäumnisse war es leicht, den Ärger oder zumindest die Aufmerksamkeit der Lehrperson auf sich zu ziehen. Glücklicherweise besteht im breiten Übungsfeld, welches einem die Schule bietet meistens die Gelegenheit, um Versäumtes ohne weitreichende Konsequenzen nachzuholen. Wenn die einleitende Frage den Bildungsdirektionen der Kantone gestellt werden muss, ist hingegen häufig nicht erst fünf vor, sondern bereits fünf nach Zwölf.
Direktdemokratische Prozesse vs. Zeitnot
Die grösste Stärke unseres direktdemokratischen Systems – Konsensfindung durch Einbezug aller Kräfte, vor allem auch der schwächsten und Lösungserarbeitung durch gründliche Diskussion – ist gleichzeitig auch seine grösste Schwäche. Wenn rasche Wandlungen, wie sie im Bereich ICT an der Tagesordnung sind, eigentlich aktiv mitgestaltet werden sollten, reicht es häufig nicht einmal mehr zum Reagieren, sondern nur noch zum Hinterherhechten.
Unterstreichung der Wichtigkeit durch Verbindlichkeit
Beispiel Kanton Aargau: Seit Jahren findet der Unterricht in Medien und Informatik «integriert» statt. Das heisst, theoretisch sind alle Lehrpersonen aller Fächer verpflichtet, die Erlernung von Kompetenzen in diesem Bereich aktiv in ihre Unterrichtslektionen einzubauen. Leider musste und muss immer wieder festgestellt werden, dass sich dieses Einbauen häufig auf «wir benutzen heute den Computer» beschränkt, falls dann überhaupt solche in genügender Stückzahl vorhanden sind.
Verschlafen, zu spät, Hausaufgaben nicht gemacht
Mit der Einführung des Lehrplan 21 sollen solche Missstände nun behoben werden. Ein separates Fach «Medien und Informatik» wird geschaffen und für die restliche Schulzeit klare Kompetenzen vorgegeben, welche die Schülerinnen und Schüler erlangen müssen. Leider zu spät für eine ganze Generation, der ersten der sogenannten «Digital Natives». Gemäss Eszter Hargittai, Professorin für Medienforschung an der Universität Zürich, wurde die digitale Bildung dieser Generation komplett verschlafen. Dies aufgrund der irrigen Annahme, dass Menschen, welche von Geburt her mit den neuen Technologien konfrontiert seien, auch automatisch kompetenter damit umgehen und ihnen von älteren Personen somit nichts mehr beigebracht werden kann. Hargittais Forschung hat das Gegenteil ergeben: Personen im Alter von 35 – 40 Jahren gehen mindestens genauso kompetent, in einigen Bereichen sogar kompetenter mit ICT um, als die erste Generation der Digital Natives. Ständiges «Online-Sein» vermittle einem nicht zwingend auch die Kompetenz dazu, die Verlässlichkeit von Daten zu überprüfen oder eine Suchmaschine richtig zu bedienen. (1)
Retten, was zu retten ist
Die Ergebnisse von Frau Professorin Hargittais Forschung sollte ein Weckruf für die Bildungspolitik sein. Schulen, Schulleitungen und Lehrpersonen benötigen jetzt, nicht erst nach der Einführung des Lehrplan 21, Strukturen, Verbindlichkeit und vor allem auch finanzielle Mittel, um nicht noch eine Generation zu verlieren. Die nun von den Fachhochschulen angebotenen Lehrgänge in «Medien und Informatik» sind gut und recht, bedienen aber lediglich diejenigen Personen, welche das entsprechende Fach später unterrichten möchten. Know-how im Umgang mit technischen und pädagogischen Fragen rund um ICT ist in den meisten Schulhäusern bereits vorhanden. Statt auf Wartelisten von überfüllten Kursangeboten zu verweilen, sollten die entsprechenden Personen ihr Wissen im Schulhaus multiplizieren können. Auch externe Profis, sei es aus anderen Schulen oder der Privatwirtschaft, dienen dem sofortigen Zugang von Wissen kurz- und mittelfristig um ein Vielfaches mehr. Längerfristig ist eine neue Fachausbildung sicherlich sinnvoll. Trotzdem stellt sich mir die Frage, wie weit eine solche für die vorangehend erwähnten «Schulhausprofis», welche jahrelange Praxiserfahrungen, teilweise unter extrem ausbaufähigen Rahmenbedingungen, mitbringen, wirklich gewinnbringend ist.
Am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch alles
Kompetenzerwerb in Medien und Informatik für Schülerinnen und Schüler heisst nicht ausschliesslich, möglichst viel am Computer oder am Tablet zu sitzen. Das Hauptübungsfeld ist nun aber ein digitales und vom Internet und elektronischen Geräten geprägt. Somit müssen zwingend genügend, möglichst mobile, Geräte, eine hervorragende WLAN-Abdeckung mit grosser Bandbreite und die notwendige Peripherie, wie z.B. Projektoren, vorhanden sein, um kompetent im Umgang mit ICT zu werden. Schliesslich wird das Schwimmen auch nicht ohne Schwimmbad und Mathematik nicht ohne Fachbücher, Geometriezubehör und rechenfähige Maschinen erlernt. Hier zu sparen rächt sich an allen Ecken und Enden. Leider geschieht genau das aber immer noch: Die Kantone verlangen zwar eine solide Ausbildung in Medien und Informatik, es werden aber keinerlei Gelder für den Erwerb einer entsprechenden Infrastruktur oder für die Anstellung von pädagogischen und technischen ICT-Supportern gesprochen. Die ganze Last fällt zuhanden der Gemeinden. Dies fördert wiederum eine Zweiklassengesellschaft: Reiche Gemeinden mit entsprechend gut betuchten Steuerzahlern können sich eine gute Infrastruktur leisten, ärmere Gemeinden bleiben jahrelang auf ihren wenigen Billiggeräten sitzen und fehlendem Support sitzen. Davon ausgehend, dass der Umgang mit ICT der Faktor sein wird, welcher den beruflichen Erfolg in Zukunft massgebend bestimmen wird, öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich noch einmal stärker. Auch Ideen wie «bring your own device» unterstützen genau diesen, für den Zusammenhalt der Gesellschaft fatalen, Prozess.
Die Zerschlagung des gordischen Knotens
Wie so oft in der Bildungslandschaft, liegt die kurzfristige Lösung des Problems bei den Schulleitungen und Lehrpersonen, den improvisationsgewöhnten Profis vor Ort. Wer es schafft, durch konsequenten Einsatz der (auch nur wenigen) Geräte am Schulort aufzuzeigen, dass diese nicht einfach nur «nice to have» sind, sondern einen integralen Bestandteil des Unterrichts und der Kompetenzvermittlung darstellen, hat bereits den ersten Schritt gemacht. Wenn Bürgerinnen und Bürger und auch Gemeinderäte erleben, dass mit den gesprochenen Finanzen der Steuerzahler wirtschaftlich umgegangen wird und Bemühungen da sind, aus den vorhandenen Mitteln das Beste zu machen, sind sie auch bereit dazu, den Weg mit grösseren Mitteln weiter zu verfolgen. Werden weitere Beschaffungen genehmigt ist es wichtig, die Voraussetzungen vor Ort – bereits vorhandene, noch brauchbare Infrastruktur, ICT-Profis im Kollegium, Bedürfnisse, etc. – genau zu analysieren. Oft helfen hier Personen mit Erfahrung als TICTS oder PICTS an Schulen viel besser weiter, als grosse Beratungsfirmen oder Fachhochschulen.
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass ein intelligenter Umgang mit den vorhandenen Ressourcen, gepaart mit einer kräftigen Portion Herzblut die fruchtbarsten Voraussetzungen sind, um ans Ziel zu kommen. Unterdessen macht die Bildungspolitik ja vielleicht ihre Hausaufgaben – die Schulen sind bereits einen Schritt weiter.
Patrick Huggel
Link
Artikel der Aargauer Zeitung über das Dilemma der ersten Generation der Digital Natives.
Quelle
Vgl. von Däniken, Theo: Surfen lernen. In: News Universität Zürich. Stand: 07.02.2018. http://www.news.uzh.ch/de/articles/2018/hargittai-forschungsrat.html (abgerufen am 03.05.2018 um 11.55 Uhr).