Die neue alte Furcht vor dem Neuen

Wie eine Welle braust die Digitalisierung über die Wirtschafts- und Bildungslandschaft und genau wie eine solche irgendwann auf Land trifft, trifft die Digitalisierung, v.a. diejenige in den Schulen, nun auch auf Widerstand. Verständlich, verursachen neue Technologien doch immer diffuse Ängste: So wurden bereits das Fernsehen, das Buch, ja sogar die Schrift verteufelt und als Anfang vom Ende der Menschheit, deren Intelligenz und/oder sozialen Interaktion benannt. Aber besteht wirklich Grund zur Sorge, handelt es sich hierbei nur um eine Hysterie oder sind die momentanen Gegenströmungen sogar gefährlich, weil sie eine zukunftsgerichtete (Schul)bildung unserer Kinder verhindern könnten? Im Folgenden wird versucht, etwas Licht in den Argumentationsdschungel zu bringen.

 

Silicon Valley meets Walldorf

Verschiedene Medien – z.B. die Aargauer Zeitung - berichteten in den letzten Tagen darüber, dass einige Tech-Millionäre und -Milliardäre aus dem Silicon Valley ihre Kinder seit neustem bewusst in Schulen ohne Computer- und Internetzugang schicken würden, meist Walldorfschulen. Weiter reglementierten sie den Zugang zu Smartphones und anderen digitalen Geräten stark. Diese Entscheidungen stützten sie auf eine Studie, welche nachweise, dass die Schulleistungen von Kindern umso besser seien, je weniger Zeit sie vor dem Bildschirm verbrächten (1). Die gleichen Menschen also, welche seit Jahren die digitale Aufrüstung von Schulen predigen, «schützen» ihre Kinder vor eben dieser Aufrüstung.

Ein bekannter Kritiker und Warner bezüglich des Einsatzes von ICT in Schulen ist Manfred Spitzer, seines Zeichens Psychiater und Hochschullehrer, welcher unter anderem festhält, dass ein Gehirn lerne, indem es mit seinen Nervenzellen Informationen verarbeite und dadurch neue Verbindungen schaffe. Fände die Informationsverarbeitung im Computer statt, so lerne das Gehirn nichts (2).

Weitere häufig gehörte und gelesene Argumente sind, dass der Computer das Lernen nicht besser mache, die Lehrperson nicht ersetzen könne und soziale Interaktionen zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern verschlechtere oder gar verhindere.

 

Meinungen sind keine Fakten

Wie so oft muss auch hier zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und daraus abgeleiteten, bzw. frei geäusserten Meinungen unterschieden und beides im entsprechenden Kontext betrachtet werden. So sind «einige Tech-Millionäre» noch lange nicht alle, ausserdem sind diese auch keine Bildungs- sondern eben Tech-Experten. Aus ihrer Perspektive ist es auch völlig unbedenklich, ihren Kindern den Umgang mit Medien bis zu einem gewissen Alter vollständig zu verweigern (wobei die Frage im Raum stehen bleibt, ob dies dann auch wirklich, wie angegeben, geschieht), wachsen diese Kinder doch in einem Expertenumfeld auf, welches ihnen das nötige Rüstzeug jederzeit mitgeben kann. Weiter ist höchst fragwürdig, ob die Verweigerung der begleiteten Beschäftigung mit modernen Medien tatsächlich der Weisheit letzter Schluss ist – schliesslich wird das moderne Leben durch ICT dominiert. Was verboten ist, wird interessant und ein vernünftiger Umgang mit Situationen und Geräten, welche einem im Alltagsleben zwangsweise begegnen, muss früh genug trainiert werden. Ansonsten wären auch Verkehrsunterricht oder Sexualkunde obsolet, bzw. gefährlich. Diese müssten ja dann – mit der gleichen Logik bewertet – zu mehr Verkehrsunfällen und Teeangerschwangerschaften führen.

Was ist nun aber mit den zitierten Studien? Diese basieren doch, soweit sie wissenschaftlichen Standards genügen (was leider auch nicht immer der Fall ist), auf nachgewiesenen Fakten? Auch hier muss man vorsichtig sein: Eine seriöse wissenschaftliche Studie beleuchtet fast immer nur einen Zusammenhang eines ganz bestimmten Gebiets unter klar festgelegten Bedingungen. Pauschalaussagen wie «wenig Bildschirmzeit gleich bessere Leistungen» müssen deshalb sofort das kritische Denken auf den Plan rufen. Welche Bildschirmzeit ist gemeint? Von wem? Wurde eine bestimmte Zielgruppe untersucht? Wurden die Probandinnen und Probanden mit den Geräten alleine gelassen oder begleitet? Was wurde konsumiert?

Ähnlich sieht es mit den Büchern von Spitzer aus: Die Tatsache, dass er ausgebildeter Psychiater ist, macht seine Werke nicht automatisch zu wissenschaftlichen Studien. Spitzers Aussagen, bzw. seine Methoden werden von verschiedenen Personen kritisiert. So wirft z.B. Christian Stöcker, Professor für Digitale Kommunikation an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, Spitzer vor, er deute Korrelationen zu Kausalzusammenhängen um und verwende absurde, auf Angsterzeugung ausgelegte Analogien (3). Als Beispiel dafür nennt er die oben erwähnte Aussage über das Lernen des menschlichen Gehirns. Stöcker entgegnet, dass mit dieser Logik auch handschriftliche Notizen in der Mathematik übel wären, da nur mit im Kopf gelöste Gleichungen wirklich gelernt würde (4).

 

Gut ausgebildete Lehrpersonen sind der Schlüssel

Wie bringen die erwähnten Befürchtungen, Meinungen und Gegenthesen Eltern, Lehrpersonen und Schulleitungen nun aber weiter? Zur Beantwortung dieser Frage, soll noch einmal das Bild der Digitalisierung als Welle, welche über die Menschheit hereinbricht hervorgerufen werden: Genauso wie eine Riesenwelle durch das Bauen von Mauern oder gar die Leugnung ihrer Existenz nicht aufgehalten werden kann, verhält es sich auch mit der Digitalisierung, da Computer täglich benutzt, deren Annehmlichkeiten gewünscht und sie überall im Alltag eingesetzt werden. Dies ist ein Fakt, welcher durch Meinungen nicht wegdiskutiert werden kann. Allerdings muss eine Welle nicht zwangsläufig Zerstörung verursachen, der Umgang mit ihr kann trainiert, ihre Auswirkungen kanalisiert und sogar zur Erzeugung von Energie genutzt werden. Die Welle selbst ist weder gut noch böse, sie ist einfach da. Kinder und Jugendliche müssen also früh die Gelegenheit haben, sich mit der Digitalisierung und ihren Annehmlichkeiten und Schattenseiten auseinanderzusetzen. Technische Geräte müssen sie als Werkzeug, wie es Bücher, Bilder, Schraubenzieher oder Häkelnadeln auch sind, begreifen, nicht als Sklaventreiber oder Ungeheuer, welchen sie schutzlos ausgeliefert sind.

Um diese Ziele zu erreichen, braucht es ein Übungsumfeld, in Form einer gut organisierten und geschützten ICT-Infrastruktur und v.a. Lehrpersonen und Eltern, welche die Kinder auf ihrem Weg zur digitalen Selbstbestimmung und Mündigkeit begleiten. Auf den Punkt bringt dies das gemeinsame Positionspapier zur Digitalisierung von LCH und SER, welches «ausreichende Ressourcen, Anpassungen, Koordination und Führung auf allen Ebenen» verlangt und die «Qualität der Lehr- und Lernprozesse» ins Zentrum stellt (5).

Artikel, Diskussionen oder Streit über eine «gute» oder «böse» Digitalisierung oder bringen also in etwas soviel Mehrwert, wie sich über das Wetter zu beschweren. Erstrebenswert hingegen ist eine aktive Entwicklung in Richtung gewinnbringende und schadensverhindernde Nutzung der neuen Technologien, was ausschliesslich über Bildung, niemals aber durch Realitätsverweigerung geschehen kann.

 Patrick Huggel

Quellen

  1. Vgl. Müller, Patrik: Menschen statt Computer - die verblüffende Trendwende an Schulen im Silicon Valley. In: azonline.ch. Stand: 31.10.2018. https://www.aargauerzeitung.ch/kommentare-aaz/menschen-statt-computer-eine-verblueffenden-entwicklung-an-schulen-im-silicon-valley-133651714 (abgerufen am 05.11.2018 um 15.12 Uhr).

  2. Vgl. Spitzer, Manfred: Eine Massnahme zur Verdummung. In: Deutschlandfunk Kultur. Stand: 12.10.2016. https://www.deutschlandfunkkultur.de/manfred-spitzer-zum-digitalpakt-fuer-schulen-eine-massnahme.1008.de.html?dram:article_id=368325 (abgerufen am 05.11.2018 um 15.15 Uhr).

  3. Vgl. Stöcker, Christian: Bestsellerautor über Einsamkeit - Die Methode Spitzer. In: Spiegel Online. Stand: 11.03.2018. http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/manfred-spitzer-ueber-einsamkeit-an-allem-ist-das-internet-schuld-a-1197453.html (abgerufen am 05.11.2018 um 15.16 Uhr).

  4. Vgl. Stöcker, Christian: Widerstand gegen Schulcomputer - Nicht hören, nicht sehen, nicht digitalisieren. Stand: 16.10.2016. http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/widerstand-gegen-digitalisierung-der-schule-kolumne-a-1116660.html (abgerufen am 05.11.2018 um 15.18 Uhr).

  5. Präsidentenkonferenz LCH-SER: Schule in einer digitalen Welt - Gemeinsames Positionspapier LCH und SER. Stand: 12.09.2018. https://www.lch.ch/fileadmin/files/documents/Positionspapiere/180912_Positionspapier_LCH-SER_Digitalisierung.pdf (abgerufen am 05.11.2018 um 15.20 Uhr).